* 27 *

27. Botts Brücke
Tor

Rose war spät dran. Im Zaubererturm war es drunter und drüber gegangen, und so hatte sie im Krankenrevier aushelfen müssen, bis der diensthabende Zauberer endlich vom Alarmeinsatz zurückgekehrt war. Nun aber rannte sie die Zaubererallee hinunter. Sie freute sich darauf, an einem so großartigen Zauber wie dem Sicherheitsvorhang teilzuhaben, und wollte Bertie Bott nicht länger warten lassen als unbedingt nötig.

Bertie Bott stand vor dem Sicherheitsvorhang und bewachte mannhaft die Verbindungsstelle, nicht ahnend, dass nur wenige Schritte von ihm entfernt, auf der anderen Seite der schimmernden lila Wand, lautlos fünfundzwanzig Gespenster auf und ab patrouillierten und die Naht des Vorhangs suchten.

Berties Magen knurrte. Der Hunger quälte ihn. Er träumte von Würstchen mit Kartoffelbrei und Soße, Sirupkuchen mit Vanillesoße und vielleicht noch einer kleinen Portion Schokoladenpudding, wenn er dann noch konnte. Er seufzte innerlich. Doch, ja, er würde noch können. Während Bertie darüber nachsann, ob er sich zu seinen Würstchen lieber Erbsen oder eine doppelte Portion Kartoffelbrei genehmigen sollte, gab sein Magen das bisher lauteste Rumpeln von sich. Nur eine Armlänge von ihm entfernt blieb das Würger-Gespenst stehen und spitzte die Ohren.

Bertie fror bis auf die Knochen, denn nicht einmal sein bester, mit Pelz gefütterter Mantel aus zweiter Hand vermochte ihn vor der Kälte in der Längsten Nacht zu schützen. Er wandte sich von der Nahtstelle ab und zog ihn aus, um den Pelz aufzuschütteln und so für eine Weile wieder dichter zu machen – ein alter Trick, den er aus der Mantelbranche kannte. Doch als er ihn schüttelte, streifte der Saum des Mantels den Sicherheitsvorhang. Bertie wusste nicht, wie ihm geschah.

Blitzschnell hieb das Gespenst ein Loch in die Nahtstelle, packte ihn mit einer Hand und zog mit aller Kraft. Bertie stürzte rücklings in den Sicherheitsvorhang. Im Nu hatte ihm das Würger-Gespenst die Hände um die Kehle gelegt und zerrte ihn auf seine Seite, sodass er wie eine kleine Buckelbrücke über dem Vorhang lag – was später als Botts Brücke in die Lehrbücher für Zauberlehrlinge einging.

Links und rechts von Bertie strahlte das magische lila Licht noch wie eine Leuchtwand, doch dazwischen klaffte nun ein dunkles Loch wie eine Zahnlücke in einem lächelnden Gebiss. Und während Bertie Bott mit dem Gesicht nach oben im verschneiten Gras lag, strömte eine schwarze Flut von Gespenstern über ihn hinweg. (Als einer, der zu seinem Leidwesen die einzige Gelegenheit, die Errichtung eines Sicherheitsvorhangs mitzuerleben, verpasst hatte, viele Jahre später selbst einen solchen Vorhang errichtete, wurde diese Szene als erste im Bild gezeigt.)

Rose kam bei den beiden Fackeln an, die das Palasttor in der Mauer flankierten. Sie blieb kurz stehen und verschnaufte, dann stieß sie das Tor auf, an dem ein großes Schild hing mit der knappen Mitteilung: DAS FEST ENTFÄLLT. Gudrun die Große – der verblasste alte Geist, der das Palasttor bewachte – lächelte Rose an, doch Rose, geblendet von der verblüffenden Helligkeit des Sicherheitsvorhangs, sah sie nicht.

»Sieh dich vor, Lehrmädchen«, flüsterte Gudrun. »Sieh dich vor.« Doch Rose hörte nur das Wispern des Winds, der vom Fluss heraufwehte.

Als sich Rose dem Sicherheitsvorhang näherte, überkam sie ein unbehagliches Gefühl. Rose war ein feinfühliges Lehrmädchen mit einem Gespür für Dunkelkräfte – einem viel zu feinen Gespür, wie manche meinten. Und sie besaß ein Talent, von dem sie gar nichts wusste, das sie aber bald entdecken sollte: Sie konnte Gespenster sehen. Nach Bertie Bott Ausschau haltend, schritt sie langsam über den Rasen zu der Stelle, wo die Naht im Sicherheitsvorhang war, direkt vor dem Palasttor. Ihr Unbehagen wurde immer größer. Wo war Bertie Bott? Sie konnte ihn nirgends entdecken. Dabei war er nun wahrlich nicht leicht zu übersehen, dick, wie er war. Sie fragte sich, ob er vielleicht schon zum Essen nach Hause gegangen war, da sie sich verspätet hatte. Aber sie war sich sicher, dass nicht einmal ein heißhungriger Bertie Bott es wagen würde, einen so wichtigen Posten zu verlassen.

Rose blieb stehen. Sie konnte nicht weitergehen, etwas in ihr sträubte sich dagegen. Sie hatte das sonderbare Gefühl, immer weniger zu sehen, je angestrengter sie nach Bertie Ausschau hielt. Sie zitterte und zog ihren grünen Lehrlingsmantel enger, aber nicht weil sie fror, denn vom Rennen war ihr noch warm, sondern um sich zu schützen. Wovor, wusste sie selbst nicht.

»Bertie?«, rief sie halblaut. »Bertie?«

Sie beschloss, es mit einem alten Zauberertrick zu versuchen. Sie blieb reglos stehen, drehte langsam den Kopf von einer Seite auf die andere und ließ ihre Augen »sehen, was sie sehen werden«. Und das taten sie. Plötzlich entdeckte sie die Lücke im Sicherheitsvorhang, und die Gespenster, die durch den Spalt strömten. Abscheuliche, schattenhafte Gespenster, die auf sie zuhoppelten, als wären alle ihre Albträume mit einem Schlag wahr geworden.

Rose rannte los. Sie rannte so schnell, dass sie schon die halbe Strecke zum Zaubererturm zurückgelegt hatte, ehe ihr die ganze Bedeutung des Gesehenen aufging. Und dann rannte sie weiter, so rasch sie konnte, um Marcia zu benachrichtigen.

Aber Marcia war nicht im Zaubererturm.

Marcia war noch im Manuskriptorium.

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